Agile ERP Beschaffung

Für agile Auftraggeberinnen stellt sich die Frage: "können wir unser neues ERP-System agil beschaffen?".

Ein neues ERP-System agil zu beschaffen wird je länger je intensiver diskutiert. Die ERP-Projekterfahrungen der ERP-Profis der acreo zeigen, dass es durchaus möglich und mancherorts auch bereits erfolgreich angewendete Praxis ist. Im ERP-Umfeld haben sich ERP-Anbieterinnen und Auftraggeberinnen traditionell einer schrittweisen Beschaffung angenommen, welche sich in etwa wie folgt beschreiben lässt:

  1. Anforderungen in einem Lastenheft dokumentieren
  2. grössere Anzahl von ERP-Anbieterinnen evaluieren (Longlist)
  3. mit verschiedenen Massnahmen die Anzahl der ERP-Anbieterinnen auf einige wenige reduzieren (Shortlist)
  4. Schlussverhandlungen und Vertragsabschluss
  5. Start der "echten" Zusammenarbeit

Dieser stark vereinfacht dargestellte, traditionelle Beschaffungsprozess ist von vielen Seiten Dokumentation, einigen Präsentationen, Frage-/Antwort-Runden und Verhandlungen geprägt. Selbstverständlich ist für eine qualitativ hochwertige Durchführung der ERP-Beschaffung eine entsprechende Zeit- und Ressourcenplanung vorzusehen. Dies kann rasch einmal mehrere Monate in Anspruch nehmen. 

Anforderungen an das ERP-System

Auffällig bei traditionell durchgeführten ERP-Beschaffungen ist, dass der Prozess auf Annahmen, individuellen Eindrücken, teilweise unreflektierten Erwartungen und auch Versprechen basiert. Die Zusammenarbeit zwischen Auftraggeberin und ERP-Anbieterin startet auf der Grundlage von Dokumenten. Dies in einem bereits weit fortgeschrittenen Beschaffungsprozess, in welchem viele Überlegungen eingeflossen sind - jedoch "nur" seitens Auftraggeberin. Selbstverständlich ist Agilität in diesem Kontext auch mit neuen Fragen verbunden. Beispielsweise, wenn die Beschaffung nach GATT/WTO Regeln zu erfolgen hat, oder wenn seitens Auftraggeberin oder ERP-Anbieterin entsprechende Erfahrungen fehlen, oder wenn das gegenseitige Vertrauen (noch) zu wenig entwickelt ist, oder wenn grundsätzlich ein Dokumenten-basierter Ansatz gelebt wird. Traditionell werden alle zwingenden und erwünschten Anforderungen dokumentiert. In der Regel wird seitens Auftraggeberin auch der Vorgehensplan und damit insbesondere die einzuhaltenden Termine wie beispielweise der "Go-Live" Termin vorgegeben. Somit bleiben insbesondere der Erfüllungsgrad der Anforderungen und der dazu offerierte Preis von Interesse. Als agile Auftraggeberin möchte man jedoch anders vorgehen.

Fokus der agilen ERP-Beschaffung

Bei der agilen ERP-Beschaffung erwartet man von Anfang an sicht- und messbare Resultate. Somit verändert sich die Zusammenarbeit grundlegend, mit Vor- und Nachteilen gegenüber einer traditionellen Beschaffung. Risiken können früher erkannt werden, "falsche" Versprechen früher erkannt und die Risiken besser verteilt werden. Durch den Fokus auf die direkte Wertschöpfung wird die Zusammenarbeit rasch auf die funktionierende ERP-Lösung ausgelegt. Wenn man sich als Auftraggeberin für eine agile ERP-Beschaffung interessiert oder entscheidet, dann könnten folgende Fragestellungen von Interesse sein.

Fragen für eine agile ERP-Beschaffungsgrundlage

  • Ist man als Auftraggeberin wirklich auf der Suche nach enger Zusammenarbeit und Interaktion oder erwartet man ein "Rundum-Sorglospaket mit vertraglicher Absicherung"?
  • Ist die ERP-Anbieterin bereit, laufend funktionierende Produkte zu liefern?
  • Ist die Arbeitsweise auf beiden Seiten flexibel genug und bestehen genügend Erfahrungen im agilen Kontext?
  • Sind die ERP-Projektrisiken fair verteilt? Wenn unter Agilität plötzlich nur noch Leistungen verkauft werden und kein Werk mehr zustande kommt, dann sollte man sofort reagieren.
  • Besteht Konsens darüber, wie messbare Funktionalität laufend geliefert wird?
  • Bestimmt die Auftraggeberin den Wert des Produkts, gesteuert über das Backlog?
  • Wie viel Transparenz erfährt und erlebt man, ist der Fokus der ERP-Anbieterin auf das Ergebnis ausgerichtet?
  • Kann das gesamte ERP-Projekt in eine Reihe vieler kleiner ERP-Projekte aufgeteilt werden?
  • Liefert jedes dieser kleinen ERP-Projekte etwas funktionierendes und messbares?

Merkmale einer agilen ERP-Beschaffung

Die Merkmale könnten in vielen Fällen wohl auch als Besonderheiten bezeichnet werden. In vielen ERP-Projekten ist Agilität oder wenigstens Teile davon bereits im Projektvorgehen verankert. Doch die der Zusammenarbeit vorlaufenden Tätigkeiten - während der ERP-Beschaffung - finden in der Regel noch immer nach traditionellen Regeln statt. Die agile ERP-Beschaffung erfordert, dass von Anfang an das Vorgehen in mehrere Iterationen unterteilt werden kann. Mit jeder Iteration kommt man der ERP-Beschaffung einen Schritt näher, die Ermittlung und Dokumentation von Anforderungen, das Feedback dazu (bspw. Präsentationen, Demo, Demo-Zugang, Best-Practices, Workshops) erfolgt in jeder einzelnen Iteration. Wenn die ERP-Gesamtlösung im gemeinsamen Fokus steht, dann kann über die Lösungen und deren Wert interagiert werden und weniger über Meilensteine, Preise und die Anforderungserfüllung auf der Lastenheft Seite 235 ;-).

Natürlich finden sich auch viele Parallelen in einer erfolgreichen Beschaffung, unabhängig ob agil oder traditionell:

  • laufende und transparente Abstimmung zum aktuellen Stand, zu Unklarheiten und vermuteten Risiken;
  • klare Kommunikation der Erwartungen, unter Berücksichtigung, dass diese möglichst messbar zur Verfügung stehen;
  • fähige und hochmotivierte Projektmitarbeitende;
  • verbindliche Regeln, welche auch vertraglich eindeutig geregelt werden und
  •  sowohl die Auftraggeberin wie die ERP-Anbieterin müssen zusammen passen, sich gegenseitig "wohl" fühlen.

Ob eine agile ERP-Beschaffung das richtige und bestmögliche Vorgehen ist hängt von vielen Faktoren und Einflüssen ab.

Insbesondere davon, wie Fit die beteiligten Unternehmen, Teams und Personen betreffend einer agilen Zusammenarbeit sind. Eine agile ERP-Beschaffung ist somit auch (und vielleicht sogar - insbesondere) einen Frage der Einstellung.